[meinung]
Treuherzig und dreist sind noch die harmlosesten Ausdrücke, welche man für die Verlautbarungen einer kleinen Krankenkasse aus dem Norden von Ost-Westfalen-Lippe gebrauchen kann. In dem Vorwort ihrer Kundenzeitung vom Frühjahr dieses Jahres steht folgender Text:
Liebe Leserin, lieber Leser,
unterschreiben Sie auch nichts, was Sie nicht vorher genau gelesen haben? Was an der Haustür selbstverständlich ist, scheint vielfach bei Leistungen in der Gesundheitsbranche nicht zu gelten.
Erst kürzlich musste ein Kunde eine Zuzahlung zu einem Hilfsmittel in Höhe von 2.300 € leisten, weil er eine sogenannte Mehrkostenerklärung unterschrieben hatte. Damit bekam er eine sogenannte Luxusversorgung, obwohl eine zweckmäßige Versorgung durch die Krankenkasse für ihn nahezu kostenfrei gewesen wäre. Leider ist er nicht einmal auf die Idee gekommen, sich vor Unterzeichnung bei uns kundig zu machen. Dann wäre das sicher nicht passiert. Es ist zu vermuten, dass er regelrecht zur Unterschrift mit der Hoffnung auf spätere Kostenerstattung gedrängt wurde. Diese stellte sich im Nachhinein als völlig unberechtigt heraus. Also, bitte nichts ungeprüft unterschreiben, sondern vorher Ihre Krankenkasse fragen. Das gilt bei allen Anbietern von Gesundheitsleistungen. Unser Rat ist garantiert kostenlos. Rufen Sie uns an oder besuchen Sie uns in unseren Kundencentern
Unser Kommentar:
Ist der Begriff “Kostenlose Beratung der Krankenkasse“ in Bezug auf Hörgeräteversorgung ernst zu nehmen? Die „Beratung“ der Krankenkasse mag zwar kostenfrei sein, aber ist sie auch neutral? Suggerieren die Hinweise der Krankenkasse nicht, dass mit zuzahlungsfreien Hörgeräten bei jedem Hörstatus ein gutes Sprachverstehen erreicht werden kann?
Diese Fragen sind nicht leicht zu beantworten.
Zunächst ist festzustellen, dass Hörgerätakustiker Handwerker sind und somit auch Geschäftsleute. Dagegen ist nichts einzuwenden. Als Gesundheitshandwerker sind sie gut und hochwertig ausgebildet. Sie haben die Aufgabe, die Verordnung von Hörgeräten durch den HNO-Arzt umzusetzen. In vielen Sitzungsstunden muss der Hörgeräteakustiker gemeinsam mit dem Hörgeschädigtem passende Hörgeräte herausfinden und einstellen. Vorher sind die Otoplastiken individuell dem Ohr entsprechend anzupassen.
Dies erfordert einige Regularien, welche im SGB V sowie in Verträgen mit den Krankenkassen festgelegt sind. Im SGB V heißt es , dass die Versorgung mit den Hörgeräten ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein soll und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten darf. Also nicht bloß zweckmäßig, wie die Krankenkasse dies in ihrem Vorwort suggeriert. Ist eine Hörgeräteversorgung entsprechend dem Hörstatus erfolgt, kann auch von einer angeblichen Luxusversorgung keine Rede sein. Krankenkassen behaupten häufig, dass bei Versicherten eine Luxusversorgung erfolgen würde. Bei hochgradig, an Taubheit grenzend Schwerhörigen oder Resthörigen ist das Wort „Luxusversorgung“ als reiner Zynismus zu bewerten. Die notwendigen Hörgeräte müssen wegen des schwierigen Hörstatus nun einmal technisch hochwertig sein, und das erfordert einen höheren und damit teuren technischen Entwicklungsbedarf. Das Maß des Notwendigen wird mit solchen Geräten nicht überschritten. Zusätzlich verteuernd wirkt die Tatsache, dass die Zahl der Betroffenen relativ klein ist, die Stückzahlen für derartige Hochleistungsgeräte dementsprechend gering sind und damit die Herstellungskosten überproportional hoch. Darüber hinaus gibt es für diesen Patientenkreis auf dem Markt keine zuzahlungsfreien Hörgeräte! Schlussendlich der Anpassvorgang durch den Hörgeräteakustiker wegen der komplexen Schwerhörigkeit schwierig ist und lange dauert, was den Preis ebenfalls in die Höhe treibt.
Nun behauptet die Krankenkasse, dass durch eine Beratung bei ihr eine nahezu kostenfreie Versorgung möglich wäre. Wie dies bei diesen Fakten zustande kommen soll, verrät sie aber nicht.
Sie verschweigt, dass der Kunde – wie bei jeder handwerklichen oder geschäftlichen Leistung – am Ende die erbrachte Leistung des Handwerkers durch Unterschrift bestätigen muss. Hier verlangen die Krankenkassen, dass der Patient mit seiner Unterschrift einverstanden ist, auf mögliche Rechtsmittel zu verzichten, die ihm im Hinblick auf die Eigenleistungen zustehen. Ihm stehen dann nur ca. 420,- € pro Hörgerät zu. Dieser Festbetrag wurde 2004 von den Spitzenverbänden der Krankenkassen festgelegt und seitdem nicht erhöht. Daneben gibt es davon abweichende Verträge einzelner Krankenkassen mit der Bundesinnung der Hörgeräteakustiker (BIHA) oder großen Hörgeräteakustiker-Ketten.
Wenn die Krankenkassen glaubwürdig sein wollten, müssten sie dem Versicherten VOR dem Aufsuchen des Hörgeräteakustikers mitteilen, in welchem Geschäft er die notwendigen Hörgeräte zum Festbetrag ohne Zuzahlung bekommen kann. GENAU DAS ERFOLGT ABER NICHT1
Es stellen sich folgende Fragen:
Wie kann eine Krankenkasse behaupten, durch ihre Beratung könnten zuzahlungsfreie Hörgeräte gefunden werden – zumal die Krankenkasse weder den Hörstatus ihres Versicherten noch die erforderliche Hörgeräte-Leistung kennt, die ihr Versicherter benötigt, damit gutes Sprachverstehen gewährleistet ist?
Kann der Hörgeräteakustiker sicher sein, dass er seine Leistungen, wie z.B. Anpassen, Messen und Prüfen der Hörgeräte, bezahlt bekommt?
Soll der Versicherte den Hörgeräteakustiker nach vielen Sitzungen und wochenlangen Tests der Hörgeräte durch Verweigerung der ersten Unterschrift verprellen?
Soll etwa erreicht werden, dass der Versicherte erst gar nicht einen Hörgeräteakustiker aufsucht, weil er weiß, dass am Ende der handwerklichen Leistung eine zweite Unterschrift zu leisten ist, die er finanziell gar nicht erfüllen kann?
Soll der Versicherte die Leistungen des Hörgeräteakustikers durchexerzieren, um dann festzustellen, dass er die zweite Unterschrift wegen des Eigenanteils nicht leisten kann und dann gezwungen ist, einen meist jahrelangen gerichtlichen Streit mit der Krankenkasse durchzufechten?
Oder soll der Hörgeräteakustiker auf seinen Kosten sitzen bleiben, weil ihm die Krankenkasse sagt, er müsse zum Festbetrag versorgen?
Aus den vorstehenden Ausführungen ist zu ersehen, dass eine kostenlose Beratung durch die Krankenkasse gar nicht neutral sein kann. Es kann nur davor gewarnt werden, sich auf eine mündliche Auskunft, per Telefon oder durch Besuch bei der Krankenkasse vor Ort zu verlassen. Grundsätzlich kann man sich ohnehin nur auf schriftliche Festlegungen berufen und sollte mündliche und daher nicht belegbare Aussagen vermeiden.
Wenn man den Verlautbarungen der Krankenkasse Glauben schenken soll, dann darf man getrost von der Krankenkasse VOR dem Besuch eines Hörgeräteakustikers eine schriftliche Kostenanerkenntnis über die Hörgeräte verlangen. Aber genau das wird die Krankenkasse nicht tun.
Die Krankenkasse ist aufgrund des Vorwortes von einem Versicherten mit der Bitte um Auskunft angeschrieben worden, ihm Hörgeräteakustiker zu nennen, welche die nahezu kostenfreie Versorgung anbieten. Auskunft der Krankenkasse: „Eine Empfehlung auszusprechen sei ihr nicht erlaubt. Der Kunde möge doch selber recherchieren.“
Es bleibt festzuhalten:
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Das Problem nicht bedarfsdeckender Festbeträge für Hilfsmittel muss rechtlich und politisch gelöst werden.
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Die Leistungsansprüche auf Hilfsmittel bedürfen insgesamt einer systematischen Neuordnung.
(Zitat aus Institut für Qualitätssicherung in Prävention und Rehabilitation GmbH an der Deutschen Sporthochschule Köln, Mai 2009)
Der Gesetzgeber sollte das Leistungsrecht der Hilfsmittel neu ordnen und vereinfachen. Die bisherige Zuordnung zur Krankenversicherung ist dabei nicht zwingend die beste Lösung, da die Krankenkassen nicht die gesamtgesellschaftlichen Kosten bei Fehl- oder Unterversorgung im Blick haben – sie sehen nur die momentane Einsparung. Die Unklarheiten darüber, welche Grundbedürfnisse behinderter Menschen unterstützt werden, ob es noch einen bedarfsdeckenden Leistungsanspruch gibt und ob sie am technischen Fortschritt partizipieren können, sind politisch zu klären. Die UN-Konvention zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen gibt den Vertragsstaaten auf, Verfügbarkeit und Nutzung von hochwertigen Mobilitätshilfen, Geräten, unterstützenden Technologien für Menschen mit Behinderungen zu erleichtern (Art. 4 Abs. 1 lit. g, Art. 20 lit. b). Barrierefreiheit beginnt hier mit einem einfacheren Recht.
Wie weht der Wind gerade?
Beispiel A:
Ein Schwerhöriger wird mit einem Cochlea Implantat (CI) versorgt. Schon nach kurzer Zeit stellt er enorme Erfolge beim Sprachverstehen fest und begehrt für das andere Ohr auch ein CI. Die Krankenkasse lehnt dies ab und bietet statt dessen ein teures Hörgerät nebst einer FM-Anlage ohne zu zahlenden Eigenanteil an. Der Schwerhörige weigert sich und zieht vor Gericht.
Ergebnis: Die Krankenkasse wird zur Genehmigung eines 2. CI verurteilt.
Beispiel B:
Eine Schwerhörige ist mit einem CI versorgt und begehrt von der Krankenkasse ein teures Hörgerät nebst einer FM-Anlage. Die Krankenkasse weigert sich in monatelangem Streit. Die Schwerhörige teilt letztendlich der Krankenkasse mit, wenn sie kein Hörgerät nebst FM- Anlage erhalte, ließe sie sich ein CI verordnen.
Ergebnis: Die Krankenkasse zahlt das Hörgerät nebst FM-Anlage ohne zu zahlenden Eigenanteil.
Schlusswort
Zu bemerken ist noch, dass die Krankenassen seit vielen Jahren propagieren, dass mit dem sogenannten „verkürzten Versorgungsweg“ vorgeblich Kosten einzusparen seien. Damit würden die HNO-Ärzte jedoch ihre eigene Leistung kontrollieren! Stellen Sie sich doch einfach mal vor, dass Ihre Autowerkstatt sich selber für die Prüfung der Bremsen für ihr Auto ein eigenes Prüfzertifikat ausstellen könnte! Da die HNO-Ärzte nicht ausgebildet sind, Hörgeräte oder Ohrpassstücke anzupassen, ist der verkürzte Versorgungsweg mit Qualitätseinbussen verbunden.
Dies ist aber nur einer der vielen skurrilen Verhaltensweisen der Krankenkassen in Bezug auf die Versorgung von schwerhörigen, ertaubten und CI-tragenden Menschen. Als besonders abschreckendes und zynisches Beispiel sei hier die Ablehnung von Tür-Lichtklingeln erwähnt, die bei Feuer im Hause lebensrettend sein können (da die Türklingel nicht gehört würde!)
Leider wird nicht nur von Krankenkassen, sondern sogar von Gerichten sehr unterschiedlich entschieden. Die meisten Betroffenen stecken in solchen Fällen schnell auf. Hier können nur erfahrene Selbstbetroffene aus dem Deutschen Schwerhörigenbund e.V. weiterhelfen, die in Ortsvereinen, Hörgeschädigten-Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen Ihre vielfältigen Erfahrungen weitergeben. Das Internet kann bei solchen Auseinandersetzungen – im Gegensatz zu den Erwartungen – nur sehr bedingt Hilfestellung leisten.
Hermann W. Aufderheide/Rolf Erdmann
Dieser Artikel wurde von Hermann W. Aufderheide eingestellt.