Cochlea-Implantation überall?
Ist ein Cochlea Implantat (CI) ein Lifestyle-Produkt geworden? Die Vielfalt der ca fünfzig Orte, an denen CI implantiert werden und der Anspruch der Patienten – oder besser. der Kunden – scheint das einem unbedarften Betrachter zu suggerieren.
Patienten wie auch Anbieter fordern eine ortsnahe Versorgung und postoperative Anpassungen. Ein hohes Maß an Lebensqualität sowie einen engen Kontakt zu Bildungseinrichtungen. Die Qualität der mit dem CI möglichen Bildungschancen soll mit der Nähe zur örtlichen Schule verbunden werden. Außerdem wird erwartet, dass die ortsfernen CI-Spezialkliniken umgehend und freudig wartend alle Unwegsamkeiten und Komplikationen in hoher medizinischer Qualität lösen.
Wenn ich von Ortsnähe spreche. Sind das 50 km, 250 km oder 500 km in Deutschland? Ist das ein Tages- oder Halbtagesausflug? Nun beginnt es kritisch zu werden: Ist das Cl doch kein Lifestyle Produkt? Bietet der Profi vor Ort nicht die vollständige Voraussetzung für eine umfassende medizinische Erfahrung und Behandlung? Was versteht man unter der umfassenden Erfahrung eines Spezialisten?
Umfassende Erfahrung kann ein Arzt und ein medizinischer Ingenieur nur für sich beanspruchen, wenn er täglich mehrfach und dauerhaft diese Diagnostik oder Therapie durchführt und ein unmittelbarer kollegialer Erfahrungsaustausch über die behandelten Patienten im interdisziplinären Team erfolgt Eine notwendige selbstkritische Distanz zu den Ergebnissen entsteht durch die ständige Auseinandersetzung und Konfrontation mit unkomplizierten und komplizierten Verläufen.
Kann eine Vor-Ort-HNO-Klinik mit einem CI-Operateur und einem Ingenieur den Anspruch auf ein optimales Cl-Hören – das sollte unser Anspruch als Arzt gegenüber unserem Patienten sein – auch während des sechswöchigen Jahresurlaubs dieser CI-Profis vor Ort sicherstellen? Oder brauchen wir an jeder Vor-Ort-HNO-Klinik mindestens zwei Profis für jede Disziplin? Welche Disziplin wird eigentlich für eine optimale CI Versorgung benötigt: Arzt? HNO-Arzt? Ingenieur? Pädagoge? Hörgeschädigtenpädagoge? Neurologe? Radiologe?
Ich würde für meine Kinder immer eine spezialisierte CI- Therapie, die aus einer breiten und aktuellen Erfahrung resultiert, erhalten wollen. Ist der Erfahrungsschatz ausreichend (mehr zahlt die Krankenkasse nicht), wenn ich zehn Patienten im Jahr versorge? Oder basiert die Erfahrung vor Ort auf historischem Wissen welches der Profi in seinem Weiterbildungskrankenhaus/Universitätsklinikum vor geraumer Zeit eingesammelt hat? Ist dieses historische Wissen eine aktuell hohe Qualität, die wir für unsere Patienten wollen?
Ich verlange für mich als Patient eine optimale Therapie – dass wir davon noch weit entfernt seien berichten CI-Patlenten. Operative und technische Verbesserungen können nur erreicht werden und gegenüber den Herstellern durchgesetzt werden, wenn breite und aktuelle Erfahrung eingebracht werden kann. Reicht die operative Erfahrung von zehn Patienten im Jahr,um genau diese Erfahrung zur weiteren Verbesserung einzubringen? Ich meine nein ..
Tatsache ist, dass das CI ein aktives medizinisches lmplantat mit großem Einfluss auf den Körper wie auf die Sozialisation jedes individuellen Patienten (und oft darüber hinaus) ist. Alle Beteiligten haben einen hohen Anspruch an die Effektivität, ein gutes Sprachverstehen in geräuschvoller Umgebung und gleichzeitig an einen medizinisch. technisch, pädagogisch komplikationslosen Verlauf. Wird immer bedacht, dass das CI in einer anatomisch extrem komplexen Region, zwischen dem sterilen Innenohr und dem „unsauberem“ Mittelohr aufgehoben ist? Die aktive elektrische Stimulation an einem lebenden Nerv kann bis heute nur auf eine 20jährige Erfahrung blicken. Wir stecken noch mitten in einem Lernprozess.
Um die Grenzen des Verantwortbaren immer wieder zugunsten des Optimalen zu erreichen, ist ein sehr professionelles Vorgehen zwingend. Sowohl aus ethischen, medizinischen und ökonomischen Gründen tragen wir die Verantwortung für die Versorgung mit diesem hochkomplexen Medizinprodukt, das Cochlea-Implantat. Aus dieser Verantwortung heraus meine ich. dass wir unsere Patienten in verantwortlichen und intelligenten Strukturen versorgen müssen Mindestens 100 zu implantierende Patienten im Jahr sollen die breite Erfahrung eines Teams bilden. Für Deutschland würden acht bis zehn Cl-Zentren (bei 2500 Implantationen im Jahr) sinnvoll und absolut ausreichend sein. Um aber die Herausforderung, das heißt die Ansprüche der Patienten mit der notwendigen Versorgungsqualität zu verbinden. müssen diese Zentren Netzwerke, basierend auf modernen Kommunikationsmedien (bsp. als sog. remote-fitting) mit sog. Satelliten. dezentralen Kompetenzzentren aufbauen. An diese können sich die Patienten vertrauensvoll nach der Implantation wenden Diese Satelliten bieten den Patienten – weil sie in ständigem Kontakt mit den CI-Zentren stehen – ein Höchstmaß an Qualität und Kompetenz Dies ist das Ziel einer integrierten Versorgung.
Prof Dr. med Anke Lesinski-Schiedat
Oberärztin an der HNO-Klinik & Hörzentrum Hannover (MHH)
Erstveröffentlichung 2008
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin
Dieser Artikel wurde von Hermann Aufderheide eingestellt.