Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 11.06.09
Grundlagen
Am 11.06.09 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) ein Urteil mit weit reichenden Folgen nicht nur für Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern auch im Hinblick auf wirtschafts- gesundheits- und sozialpolitische Aspekte gefällt.
In dem Verfahren ging es eigentlich um Orthopädische Schuhe, die nach den Bedürfnissen der betroffenen Kunden hergestellt und angepasst werden. Es ging um die Klärung folgender Fragen (stark verkürzt und sprachlich vereinfacht):
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Sind die deutschen gesetzlichen Krankenkassen als öffentliche Auftraggeber für die Anwendung der Vorschriften der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge anzusehen?
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Ist die Lieferung orthopädischer Schuhe an Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen als „Lieferauftrag“ oder als „Dienstleistungsauftrag“ anzusehen?
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Gilt für den Fall der Dienstleistung die „Dienstleistungskonzession“ oder die „Rahmenvereinbarung“ im Sinne der Vorschriften der Richtlinie 2004/18?
Der EuGH hielt es nach eingehenden Untersuchungen für zutreffend, dass gesetzliche Krankenkassen in Deutschland als Einrichtungen des öffentlichen Rechts und damit als öffentliche Auftraggeber anzusehen sind. Der EuGH meinte, dass eine überwiegende Finanzierung durch den Staat vorliegt, wenn die Tätigkeiten der gesetzlichen Krankenkassen hauptsächlich durch Mitgliedsbeiträge finanziert werden. Daher müsse die Richtlinie 2004/18 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge angewendet werden, woraus folgt, dass auch bei Waren, die individuell nach den unterschiedlichen Bedürfnissen der einzelnen Kunden angefertigt wurden, nach öffentlich-rechtlichen Regeln abgerechnet werden müsse. Weiterhin sind nach Auffassung des EuGH die vertraglichen Beziehungen zwischen der jeweiligen Krankenversicherung und der beratenden und liefernden Firma als eine „Rahmenvereinbarung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 5 der Richtlinie 2004/18 anzusehen. (zusammengefasste Zitate aus dem Urteil).
Der Deutsche Schwerhörigenbund e.V. hat hierzu eine Stellungnahme verfasst, in der auf die sehr erheblichen Folgen dieses Urteils hingewiesen wird. Diese Bedenken sollen nachfolgend in Kurzfassung und ohne den in der Stellungnahme enthaltenen spezifischen Bezug auf das Hilfsmittel „Hörgeräte“ dargelegt werden.
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Die anders lautende deutsche Gesetzgebung hinsichtlich Ausschreibungen im Gesundheitswesen wird mit diesem Urteil „ausgehebelt“.
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Auch individuell angefertigte Hilfsmittel sollen ausgeschrieben werden, bei Überschreiten eines Schwellenwertes von 206.000 Euro nach dem europäischen Vergaberecht zwingend europaweit. Dies bewirkt, dass nur noch Hilfsmittel mit großen Stückzahlen eine Marktchance haben werden. Nur noch Massenware wird gefragt sein, die – für die Krankenkassen möglichst kostengünstig – an die Menschen mit Behinderungen abgegeben werden.
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Kleine mittelständische Unternehmen kommen Ausschreibungen wegen zu niedriger Stückzahlen nicht zum Zuge und werden nicht überleben.
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Bei Hilfsmitteln, deren Hersteller nicht mehr existieren, sind Reparaturen und Ersatzteillieferungen nicht mehr gewährleistet. Unnötige Neubeschaffungen werden die unabweisbare Folge sein, wodurch die Krankenkassen und die Betroffenen finanziell völlig unnötig und sehr erheblich belastet werden.
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Sonderversorgungen und innovative Produkte, die nur in geringer Stückzahl benötigt werden, verschwinden weitgehend vom Markt, mit unabsehbaren Folgen für jene Menschen mit Behinderungen, die auf derartige Hilfsmittel-Sonderformen angewiesen sind.
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Der Trend zur Massenware wird bewirken, dass die Forschungstätigkeit zur weiteren innovativen Verbesserung der Hilfsmittel heruntergefahren wird oder sogar ganz unterbleibt. Bekanntlich ist Forschungstätigkeit nur mit Einsatz großer finanzieller Mittel möglich, die erst mal erwirtschaftet werden müssen. Volkswirtschaftlicher Nebenaspekt wird der Abbau von Arbeitsplätzen hoch spezialisierter Fachleute sein, mit erheblichen Kosten für die Sozialkassen.
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Zusätzlich besteht die Gefahr, dass bei Ausschreibungen die wohnortnahe Hilfsmittel-Versorgung verloren geht. Den (meist älteren!) Menschen mit Behinderungen wird dann zugemutet, mit längeren Fahrten zum Ausschreibungssieger fahren und den Lieferanten und Ansprechpartner ihres Vertrauens zu verlieren.
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Es entsteht ein Oligopol weniger großer Hersteller, was weniger Wettbewerb und auf längere Sicht die Gefahr unkontrollierbarer Kostenerhöhungen bedeutet. Das Gegenteil der beabsichtigten Kostensenkung wird eintreten.
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Der von Ausschreibungen geförderte Trend zu Billigangeboten wird zu erheblichen zeitlichen Verringerungen bei der Hilfsmittel-Anpassung und –Nachsorge führen mit der Folge verringerter Qualität – sehr zum Nachteil der betroffenen Menschen mit Behinderungen. Diese Handhabung steht nicht im Einklang mit der UN-Konvention zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen.
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Eine nicht ausreichende Hilfsmittelversorgung wird erhebliche Folgekosten nach sich ziehen. Beispiel Hörgeräte: Durch eine mangelhafte Hörgeräteversorgung entstehen Kommunikationsprobleme, die zur Isolation führen, welche zunächst psychische Auswirkungen auslöst, aus denen sich bei längerer Dauer und fehlender psychotherapeutischer Behandlung physische Erkrankungen entwickeln. Die dann notwendigen Behandlungskosten stehen in keinem vernünftigen Verhältnis zu den Kosten für eine in der Qualität hoch stehende Hörgeräteversorgung.
Insgesamt ist festzustellen, dass bei diesem Urteil zwar vermutlich juristisch einwandfreie Schlussfolgerungen aus bestehenden EU-Vorschriften gezogen wurden. Wie leider sehr oft bei der EU ist auch diese Entscheidung realitätsfern und lebensfremd, von marktradikaler Ideologie geprägt. Wirtschafts-, gesundheits- und insbesondere sozialpolitische Folgen blieben völlig unberücksichtigt, zudem wird die erhoffte Zielsetzung von Kosteneinsparungen im Gesundheitswesen sicherlich verfehlt werden.
Integration, Selbstbestimmung und Teilhabe oder gar Inklusion von Menschen mit Behinderungen wird durch die zu erwartende verschlechterte Hilfsmittelversorgung verhindert. Auch für den EuGH ist es nicht zulässig, sich über die UN-Konvention hinwegzusetzen. Sowohl die europäische als auch die nationale Politik ist aufgefordert, diesen Rechtsbruch zu verhindern und statt dessen dafür zu sorgen, dass dieses Urteil in Deutschland nicht umgesetzt und auf europäischer Ebene zurückgenommen wird, indem die dem Urteil zugrunde liegenden Verordnungen der EU entsprechend geändert werden.
© Rolf Erdmann, Linzer Str. 4, 30519 Hannover, Tel./ Fax: 0511/ 83 86 523, e-Mail: erdmann.rolf@gmx.de