Von Hermann W. Aufderheide
„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“
(Hermann Hesse, 1877-1962)
Diesen Satz von Hermann Hesse finde ich bezogen auf die zur Zeit stattfindenden Diskussionen zum Für und Wider der CI-Operationen bei Neugeborenen und Kleinkindern gedanklich außerordentlich reizvoll.
Denn die Geburt eines Kindes ist als der Zauber des Anfangs eines Lebens und das eines Wunders zu bezeichnen.
Und mit einer CI-Implantierung eines Kindes findet der Anfang des Zaubers des Hörenkönnens und Sprechenlernenkönnens statt, wenn das Kind taub geboren ist und nicht mehr wie in früheren Zeiten ein beschwerliches Leben am Rande der lautsprachlich orientierten Gesellschaft führen muß.
Des weiteren steht aber auch im Gesetz, daß niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Diesen Satz kann man auch so deuten, daß niemand dergestalt benachteiligt werden darf, indem die Folgen und Auswirkungen einer bestehenden Behinderung nicht vermindert oder beseitigt werden dürfen.
Nirgendwo sonst finden sich wie im Hörgeschädigtenbereich derartig krude Argumentationen für und wider den Themenstellungen
- Behinderung
- Lautsprache
- Gebärdensprache
- Cochlea-Implantat
- usw.
Behinderung:
Bei diesem Thema gibt es viele Gehörlosenvertreter, welche die Behauptung aufstellen, Gehörlose seien nicht der Gruppe der Behinderten zuzuordnen, Gehörlose seien nicht behindert, sondern eine Sprachminderheit.
Lautsprache:
Gehörlose verfügen nur in seltenen Fällen über eine hinreichende Lautsprachkompetenz. Das ist eine Folge der Unmöglichkeit der vollkommenen Sprachaufnahme über die Ohren. Diese Menschen sind in der Kommunikation mit ihrer vor allem lautsprachlich kommunizierenden Mitmenschen behindert. Die lautsprachlich Kommunizierenden nutzen in der Regel nicht die Möglichkeit Gebärdensprache zu erlernen.
Gebärdensprache:
In Jahrtausenden und Jahrhunderten ist die Gebärdensprache nicht als allgemeine Kommunikationsform aufgetreten und wurde ebenso auch nicht selten auch gewaltsam unterdrückt. Der sehr lange Kampf der Gehörlosen zur Anerkennung der Gebärdensprache ist erst vor wenigen Jahren erfolgreich gewesen. Das wird ausgesprochen begrüßt, um deren Bildungschancen zu ermöglichen.
Cochlea-Implantat:
Seit dem Jahr 1985 wird in Deutschland (zuerst mit schlechtem Ergebnis in Dühren, dann erfolgreich in Hannover) das Cochlea-Implantat als medizinische Prothese implantiert. Es ermöglicht Lautsprache auch hochgradig Hörgeschädigten auditiv anzuleiten. Dies ist dann zeitgleich mit dem erfolgreichen Kampf zur Anerkennung der Gebärdensprache erfolgt.
Nun ist folgendes festzustellen: Eine körperliche Behinderung vielerlei Art kann in vielen Fällen durch medizinische Maßnahmen gemildert oder sogar vollkommen beseitigt werden. In der Regel werden körperliche Behinderungen bei Kindern auch durch entsprechende medizinische Maßnahmen behandelt. Niemand wird auf die Idee kommen, ein sehbehindert geborenes Kind, dessen Sehfähigkeit durch operative Maßnahmen (wieder-) herzustellen möglich ist, unbehandelt zu lassen und dessen Eintritt in die Welt der Blinden und deren Kultur zu bejubeln. Ebenso wenig bleibt ein Kind unbehandelt, das einen Herzfehler hat oder dessen Extremitäten einen durch Operation behebbaren Fehler aufweisen. Bei funktionsunfähig geborenen Ohren ist also durch Operationen oder andere Maßnahmen kann ein Kind also dem kommunikativen Leben zugeführt werden.
Es gilt, die wundersame Habilitation bei Kindern und heilsame Wirkung bei Erwachsenen des Cochlea-Implantats zu erkennen.
Ob man Gehörlosigkeit als Behinderung oder als besondere Eigenschaft betrachtet, hängt vom Menschenbild ab. Wer meint, daß Hören können keine wesentliche Eigenschaft des Menschen ist, kann natürlich auf die Idee kommen, daß Gehörlosigkeit kein Mangel ist. Das wäre ein philosophisches Menschenbild, das bei naturwissenschaftlicher Betrachtung keinen Bestand haben würde. Das sehr komplizierte menschliche Ohr hat sich in Jahrmillionen langer Evolution entwickelt. Die Evolution bringt nur Eigenschaften hervor, die gebraucht werden, weil sie einen Vorteil im Lebenskampf haben. Ohne Gehör würde der Mensch heute nicht mehr existieren
Den Eltern gehörlos geborener Kinder muß folgendes klar gemacht werden: Wenn keine CI- Versorgung stattfindet, ist eine Hörbahnreifung nicht möglich. Das heißt, eine CI- Versorgung ist in einem späteren Lebenszeitpunkt als selbstbestimmte Möglichkeit nicht mehr möglich.
Ein Ablegen des CI und damit ein Ablehnen des Hörens und Annehmen Kommunizierens der Gebärdensprache ist jederzeit möglich. Eine selbstbestimmtes Leben mit all seinen Möglichkeiten – auch dem Nutzen der Gebärdensprache ist jederzeit möglich. Ohne CI nicht.
Das zeitgleiche Lernen der Lautsprache mit der Gebärdensprache ist möglich, sofern die Eltern beide Sprachen als ihre Sprachen akzeptieren. Bei gehörlosen Eltern wird die Gebärdensprache immer die gemeinsame Muttersprache bleiben, bei hörenden Eltern kann die Gebärdensprache immer mit dazu genommen werden.
Wenn in der Kindheit auf ein CI verzichtet wird, muss den Eltern klar sein (insbes. den hörenden Eltern) dass Sie dann sofort auch Gebärdensprache als Ihre weitere Sprache komplett anerkennen müssen um damit dem Kind eine gemeinsame muttersprachliche Basis zu haben.
Hermann W. Aufderheide
(DSB Referatsleiter Cochlea Implantat)
Bielefeld, Dezember 2010