Ein Märchen von Monika Becker
Am besten sucht ihr euch einen schönen gemütlichen Sessel und wenn es kalt ist dazu eine weiche Decke und vielleicht einen heißen Tee. Vergesst auch nicht den Hocker, um die Füße hochzulegen oder ihr legt euch gleich auf die Couch.
Alles fertig?
Dann fange ich jetzt einfach mal mit meiner Geschichte an.
Da ich 2 Töchter habe und alles miterlebte von den Windeln bis zum Abitur und noch weiter und viel weiter, ist die Hauptperson in meinem Märchen ein Mädchen und heißt HÖRBELINE. Das steht ganz klipp und klar in ihrer Geburtsurkunde, später auf den Zeugnissen, auf der Monatskarte für den Bus und ganz, ganz später auch im Führerschein und im Personalausweis.
HÖRBELINE ist anders als die Kinder, die ihr kennt. Als sie geboren wird, hat sie blondes Haar mit grünen und roten Streifen. Das ist ja allein schon ein großes Wunder, aber das Außergewöhnlichste an ihr sind die Ohren. Das rechte ist klein und zierlich geformt, das linke dagegen groß und spitz. Das sieht so lustig aus, dass alle Leute immerzu lachen müssen, wenn sie HÖRBELINE ansehen und ihre Eltern setzen ihr darum ab und zu eine Mütze auf, um ein bisschen Ruhe zu haben.
Auf dem kleinen zierlichen Ohr kann HÖRBELINE siebenmal besser hören als ihr Lieblingshund mit seinen beiden Schlappohren zusammen. So fällt es auch zunächst niemandem auf, dass sie auf dem großen spitzen Ohr fast nichts hört – es ist taub.
Natürlich sind die Eltern erschrocken, als sie es merken. Auch Oma, Opa, Tante, Onkel, Nachbarn und alle Leute, die HÖRBELINE lieb haben, sind erschrocken. Es sind also eine ganze Menge Leute, die sich Sorgen machen und alle zusammen ahnen nicht im Geringsten, welch ein Segen sich aus diesem Anderssein heraus entwickeln würde.
Hinter ihrem großen spitzen Ohr trägt HÖRBELINE alsbald ein digitales Hörgerät (neuerdings heißt das Hörsystem) der Spitzenklasse in knalligem orange mit lila Tupfen. Verschrieben vom besten Hals-Nasen-Ohren-Arzt und angepasst vom besten Akustiker der Stadt.
Und denkt Euch, immer dann, wenn ein noch besseres Gerät auf dem Markt erscheint, bekommt HÖRBELINE ganz automatisch und unverzüglich das neue Modell und dies alles bezahlt die Krankenkasse ohne zu murren.
Ja, da staunt ihr, nicht wahr?
Aber auch das beste und teuerste Hörgerät der Welt kann das gesunde Gehör nicht ersetzen. Diese Erfahrung machte auch HÖRBELINE und das ist im Märchen genauso wie im wirklichen Leben.
Jetzt fragt ihr vielleicht, warum braucht sie denn überhaupt ein Hörgerät hinter dem großen spitzen Ohr, wenn doch das kleine zierliche Ohr siebenmal besser hört als der Lieblingshund? Reicht das denn nicht aus im Leben?
Doch natürlich, im Notfall würde es schon reichen, aber viel besser ist es, wenn beide Ohren hören. Erst dann kann das Gehirn den Höreindruck optimal verarbeiten und wir erkennen sicher, aus welcher Richtung ein Geräusch kommt.
Alles klar?
Während der Pubertät verändert sich bei HÖRBELINE nicht nur ihr Körper, ihr Denken und Fühlen, sondern in ihrem kleinen zierlichen Ohr wächst ein bewegliches Fenster heran, dass je nach Lust und Laune geöffnet oder verschlossen werden kann, alleine durch die Kraft der Gedanken.
Ist das Fenster zu, ist auch das kleine zierliche Ohr taub. Ist es offen, dann hört sie damit siebenmal besser als ihr Lieblingshund. Aber das wisst ihr ja schon. Beim großen spitzen Ohr dagegen verändert sich nichts.
Ab diesem Zeitpunkt lernt HÖRBELINE zwei Welten kennen und schätzen.
Mit offenem Fenster in dem kleinen zierlichen Ohr und mit eingeschaltetem Hörgerät hinter dem großen spitzen Ohr genießt sie Musik und verliert sich ganz in den Höhen und Tiefen einer Melodie und möchte am liebsten dazu tanzen.
Bei Vogelstimmen kann sie erkennen, ob eine Amsel trällert oder eine Meise singt. Sie kann verstehen, was in benachbarten Räumen gesprochen wird und sie beteiligt sich gerne an Diskussionen in großer Runde. Sie ist politisch interessiert und lässt sich in den Gemeinderat wählen.
Im Gegensatz dazu stellt sie sich liebend gerne mit geschlossenem Fenster in dem kleinen zierlichen Ohr und abgeschaltetem Hörgerät hinter dem großen spitzen Ohr auf den lautesten Platz in der Stadt und staunt über die Stille.
Sie lernt das Absehen von den Lippen und die Gebärdensprache. Sie tritt in einen Hörgeschädigtenverein ein und übernimmt ein Ehrenamt.
Mal geht sie 3 Wochen am Stück als Hörende durchs Leben, dann wieder tage- oder monatelang als Hörgeschädigte und beides liebt sie gleichermaßen.
Auf dem Höhepunkt ihres Lebens wird HÖRBELINE zur Bundesministerin ernannt und unter ihrer Führung werden alle Schranken und Barrieren abgebaut, die Behinderte von Nichtbehinderten trennen. Es entsteht ein völlig neues Miteinander.
Als Anerkennung erhält HÖRBELINE das Bundesverdienstkreuz und viele andere Orden. Sie selbst bleibt bescheiden und ist dankbar über den Platz, auf den das Leben sie stellte, wo sie so viel bewirken konnte.
Manchmal wird sie auch verglichen mit Margarethe von Witzleben, der Gründerin der Schwerhörigenbewegung.
Dieser Name ist nur einer von vielen Engagierten, die da heißen: Florence Nightingale, Mutter Teresa, Albert Schweitzer, Friedrich von Bodelschwingh.
Diese Personen sind inzwischen längst gestorben, auch HÖRBELINE aus meinem Märchen lebt nicht mehr.
Die Bewegung der Nächstenliebe und Behindertenarbeit wird jedoch niemals sterben, solange es Nachfolger gibt. Halten wir Augen und Ohren offen und fangen wir am besten bei uns selber an.
Stehen wir auf und rufen laut: ICH BIN HIER, handeln wir – nicht nur jeder für sich – sondern gemeinsam und die Welt wird sich verändern und das ist bestimmt kein Märchen sondern die Wahrheit.
Alle Rechte und Urheberschaft liegen bei der Autorin. Insbesondere eine Weitergabe ohne Einwilligung von Monika Becker ist nicht gestattet.